„De Stadt“. Wemb um 1900

von Theo Valkysers

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An Wember Historie und alten Geschichten über meinen Heimatort immer interessiert, erhielt ich vor Jahren Zugang zu den „Werken“ von Hermann Willems (1892-1959). Genau wie ich ist er in Wemb geboren, am Bruch aufgewachsen und im späteren Leben weggezogen. Die Liebe zum Heimatdorf drückt er in zahlreichen Gedichten aus, in denen er seine Kindheit und Jugend im Dorf beschreibt. Da er die Texte erst Mitte der dreißiger Jahre als erwachsener Mann verfasste, können wir davon ausgehen, dass er in gewisser Weise nicht nur seine Kindheit, sondern auch den Ort, an dem er „jonk en frej“ aufwuchs, „verklärt.“ Den inhaltlichen Aussagen tut das aber keinen Abbruch. Anhand seiner detaillierten Erinnerungen erfahren wir Interessantes und Skurriles über das Aussehen Wembs, das Leben, das Miteinander und die Charaktere seiner Bewohner zu Beginn des vorigen Jahrhunderts.
Alle Gedichte sind handschriftlich in deutscher Schrift und in Wember Platt verfasst, mit Ausnahme des Gedichts: „
Das unsterbliche Heimatdörfchen“.
Am aussagekräftigsten ist für mich
„De Stadt“, mit der wohlgemerkt der Ort Wemb gemeint ist. Hier werden die Menschen, ihr Zusammenleben und die Wohnsituation anschaulich und mit ein wenig Ironie beschrieben. Die Sprache ist selbst für einen „alten“ Wember schwierig zu lesen und zu verstehen, enthält sie doch zur damaligen Zeit noch viel mehr holländische Elemente als heute und ist ein lebendiger Beweis für die stetige Anpassung und Veränderung des Dialekts. Für den kundigen Leser füge ich den original transkribierten Text hier ein, den ich im nächsten Abschnitt des besseren Verständnisses wegen erläutere.

De Stadt
Bej dä Wäwer do fingen de Karresporen an
Dor ging et ömmer wier op et End en op achteren an.
Hier koom gej wäll bej Daag gut ower de Wäch,
Mär! – in den düsteren hätt der sich mänege op den Buk gelätt.
En koom gej dann es tewitt, no har of no hott
Dann haje bestemmt Brannetele of Dörn in dä Fott.

So was der nojt gau grot Geduj op dä Stroot,
En se hat jo ok mär vör än Enbahn Bedrief Verloht.
On kohme der sich es twe Säk- of Meßkarre täge
Da gof et en halef Ühr Tid öm te owerläge!
Worr sölle wej ons wässele? off ütt et Karrespor dräje,
Wij hätt den stärksten Oß?- off et wänegs gelaje.

Dij Hüs van dä Stadt dat wohren de ränste Paläste,
Dä Dacke va Ströj, dä Muhre mett Lehm gemätselt.
Va wäges dä fresse Luff wohre genug Gahter geloote,
De Müs kosse somär vör herin on achter ütt lope.
In Hüs en Kahmer strowde me finne wette Sand
On dann- säj me wänn me herinkohm: „Wat hät gej et fejn blank.“

In dä Kahmer stond hoß owerall Vajer on Mojers Bettstaj.
An dat Ströj, worr sej op schliepen, hadden de Müs örren Dräj
vör däm Bettkas wor en moje Gardinn gespannt,
Vörr en no et schlopen, trock me se an de Kant.
Van Bett ütt keke sej op de Toffel, frug of laht
Dat wor en Enrechtung, för ärme Lüj ene Staat.

En die Menße, dij die Hüs bevölkerten on bewohnde
Dat wor fijne Ütwahl van Originalen die Schonste.
Et fing an bej Latte Jann, -on- Kak- Hann
Selijme Bas met sinn Moj, de klene Gert met sin grote Hann,
den decken Hannes met sinn Leni, on Weges met de Krijhälep
Bärtem Bät, en Wennekers Mick, on Wireks Mrej die kek so lälek.

Dat wore Karaktäre die passten op idder Blatt in den Evagelij
die paßten bejenn, - as wort en grote Familie.
En spölde sej ok gärn teggenän – Katt – of Müske-
Mieke sej sich ok achterröks männech grot Krüske;
Mär hillepe sej sich toch, tot idder Tid on Stond,
Dat et ör as Nobere moj en erlek stond.

Die Mojste wore wej Blagen,hier achter in den Huck
Ons hadde se owerall, en ok in de Scholl op dä Muck.
En – kohm dor es immes- van bütten dörr de Stadt
Dä wird nogerupen en üttgeschompe, no egen Art.
So as de Alde-flötte-, so pippten- dä Jonge
van ons hat Kak Hanneke männech Littje gesonge.

So was hier bej jong en ald, dä schönste Harmonie
En hadde sej ok dök , gän Knepp of gän Marie,
Die Ärmuj dat wor hier ahs mohs dat so sinn
On woren de Hühs ok nitt bütte voll Tinn,
En toch- waßen die Menßen hier glöckleg on frej,
On wat sej nitt hadden, - hörden der ok seker ni bej.

In der ersten Strophe kommen die katastrophalen Wegeverhältnisse zur Sprache, die schon 1732 von Pfarrer Krebs beschrieben wurden und sich offenbar in zweihundert Jahren nicht verändert haben. „De Wäwer“ ist ein Bauernhof ungefähr Mitte Bruch. Von da ging es ins Venn, das Gebiet bis hinter den Lindenhof, das noch nicht urbar gemacht worden war und im Winter oft unter Wasser stand, in alten Karten auch als das „Wemsche Meer“ bezeichnet. Der normale Weg endete hier, und es gab nur noch eine Karrenspur, rechts und links davon Dornen und Brennesseln. Begegneten sich zwei Fuhrwerke, wurde ausgemacht, wer aus der Spur weichen musste. Das bedurfte mitunter langer Überlegungen. Entweder kam es zu einem regelrechten Kräftemessen oder es wurde geschaut, wer den stärksten Ochsen, im besten Fall wer am wenigsten geladen hatte. Kam man als Fußgänger in der Dunkelheit vom Wege ab, hatte man unter Umständen Dornen “in de Fott“. Hermann Willems spricht sicherlich auch aus eigener Erfahrung, da dies sein Schul- und Kirchweg war.
Die zweite und dritte Strophe geben sehr anschaulich Auskunft über Bauweise und Ausstattung der „Paläste“ bei denen es wegen der frischen Luft viele Öffnungen (Gahter) in den Mauern gab, so dass die Mäuse vorne hinein und hinten wieder hinauslaufen konnten. Die Böden wurden mit feinem weißen Sand abgestreut, was Haus und Kammer „fein blank“ erstrahlen ließ. Die „Kahmer“ war der Wohnraum, in dem auch die „Bettstatt“ der Eheleute stand, tagsüber und beim Schlafen mit einem Vorhang abgeschirmt, von wo aus sie jedoch auch einen Blick auf eine Einrichtung hatten, mit der arme Leute „Staat“ machen konnten.
Die Bewohner dieser Häuser waren eine Auswahl an „Originalen“, die wie eine große Familie zusammenpassten, wenngleich sie auch gerne Katz und Maus miteinander spielten und einander nicht unbedingt immer grün waren. Kam es aber darauf an, hielten sie zusammen und halfen sich gegenseitig. Dieser Nachbarschaftshilfe hat Willems ein gesondertes Gedicht gewidmet. Er lobt sie als „guje Hölep in de Not“. Es gab festgelegte Rechte und Pflichten. Wer sie verletzte, konnte aus der Nachbarschaft ausgeschlossen werden.

Auszug aus: De Noberschop fruger en hue
„So was dä Noberschop enen erlikke mojen Bond
Dän ütt 10-15 of mehr Familijen bestond.
Hej dälde met de Familij de örste on letzte Ehr,
Wejden dat nej gebowde Hüs met inn, en wat noch mehr?
Van de Wieg, no den Trowaltar, bes met de Dojekeß
Ging de Noberschop, dat was seker- ä geweß.“

Eine besondere Rolle spielten die „Totennachbarn“, an die ich mich selbst noch gut erinnere. Beim Tode meines Vaters 1966 war es noch selbstverständlich, dass die beiden unmittelbaren Nachbarsleute- die Totennachbarn – den Toten wuschen und im Haus aufbahrten. Zu ihren Aufgaben gehörte auch, am Tage der Beerdigung den Aufbahrungsraum – das Wohnzimmer – zu säubern sowie das Essen zuzubereiten, so dass die Familie mit ihren Angehörigen nach dem Beerdigungskaffee zu Hause einen gedeckten Tisch vorfand. Am Tag des Todes versammelte sich abends die gesamte Nachbarschaft im Haus und betete für den Toten den Rosenkranz. „
Dann gof et noch Liklüj te bejen“. Hierbei wurden von den einzelnen Nachbarn Zettel gezogen, auf denen vermerkt war, wen sie wo im Dorf im Namen der Familie zur Beerdigung einzuladen hatten.
Auch bei Geburt, Taufe und Kinderkommunion waren die Totennachbarn in der Pflicht. Sie durften aber auch mit feiern. Bei einer Hochzeit banden die unverheirateten Jungen und Mädchen der Nachbarschaft den Kranz mit Röschen für die Eingangstür. Der blieb so lange hängen, bis er „vertärt“ („verzehrt“) wurde. Man musste gut auf ihn aufpassen, denn wenn er entwendet wurde, gab es nichts zu „vertären“ oder man musste ihn gegen „Lösegeld“ zurückholen. Die jungen Leute wurden meist am Tag der Hochzeit abends eingeladen, nahmen den Kranz kurzfristig ab und wickelten das Brautpaar darin ein. Die Aufnahme in die Nachbarschaft, das „Nachbarrecht“ wurde später separat gegeben und geschah in einer für Männer und Frauen getrennten Zeremonie, was die Bedeutung der „Nachbarschaft“ und die Zugehörigkeit dazu besonders unterstrich.
Die Nachbarschaften gibt es heute noch. Auch wenn die Notwendigkeit der gegenseitigen Unterstützung nicht mehr so gegeben ist, spielen sie im gesellschaftlichen Leben und für den Zusammenhalt von Jung und Alt weiterhin eine große Rolle.
Neben der Beschreibung der Lebensumstände finden sich in Hermann Willems’ Gedichten etliche „Karaktäre“, die ihm gut in Erinnerung geblieben sind. Dabei wird „Kak Hann“ häufiger erwähnt, u.a. auch in einer Strophe seines Gedichts
Sente Klos.

Duw der Tid, läfde noch di Lüj, dij et äges hadde beläft:
Jo,-dat hepen en spoke, - was duw noch- seker on – ächt.
En männegen Owend, sinn wej bej Kak- Hanneke gon kieke,
Wenn sej de Geister ütt et Hüs jug! Wat die wäll mieke?

Kak Hanneke
war wohl als Hexe verschrien. Erwachsene und Kinder verspotteten sie, waren aber zugleich neugierig und beobachteten heimlich ihr Tun.


Von einer weiteren „Hexe“ berichtet Hermann Willems in
De Gang no Jann der Düwel, den er im tiefen Winter mit Freunden unternahm. Zunächst beschreibt er das kalte und gespenstische Venn.


Et wor den Tid, dat diepe Wenter hat sich op dä Erd gelagt.
Wej stallepen as Spoken ower de Häj, harin in de Nagt;
Mär, wat es et toch so schüfereg bang, hier in dat kahle Vänn?
On, so gejerhaft bewäge sich die gerimmde Gagelstrück,
Dat et mej dök kald on wärem liep ower dä Röck;
Dobej schnejd dä schärpe Wend ons iskald in et Gesech,
Märnow! „Wej sinn toch no Jann der Düwel onderwäg!“

Sich gegenseitig Mut machend erreichen die Freunde schließlich die Herberge von Jan dem Düwel, der sie schon von weitem gesichtet hatte und nun hereinbat in sein Gasthaus, das er an der holländischen Grenze mit seiner Frau Toinn betrieb. Bei der Begegnung mit Toinn überkam die Freunde ein Gruseln, das in folgenden Zeilen anschaulich beschrieben ist:

Dör dän Holthuck trejde wej versechteg in de Wirtskahmer herin.
Et wor gut, dat Jann met dän Tronspott achter ons ging.
Mär! In de Schlopkahmerdöhr, wat es dat, wat dor stätt?
„Hu..... än Spok? Of än Hex?“ On achter mej lacht Jann: „Min Toinn!“
„Wat es bej ör now vör of achter? Et es gänne Onderschejd.“
Noch schlemmer as Linne-Pitt sine Griet sog sej eut,
En dat was „Jann der Düwel sine Huwelejk.

Mehr Fodden as Kleer hat sej öm än an der Lief,
Et hing bej ör alles ten öndersten bowen än scheef.
Die Hand as äne Wülder, so schwart än so schmärreg;
On dat Gesech! Ne, et was toch te äreg.
Die klähne Oge, se löchten as ütt än düster Aßekull!
En lanke Hör stonn ör va werße Kanten öm de Mull.
So stätt vör ons die Tonni en öre Jann den Düwel.

Wej satten ons derneer, Jann frug no ons Wenschen of Begehr.
„Idder ä Pöttjen Bier, än ä paar moje Siggare?“
Liewer hadde wej neks gedronke, den Appetit was ons ontfahre.
Et Fatt met Bier läj onder et Bett, wat äne Staat!
On Toinn hiel de Pöttjes dronder, en Jann liet lope.
„ Enen Dronk “, sät Jann, „ dä Köje so staats bej minn blos kope.
Dat es de Spezie van Tonni än Jann der Düwel. “

En Toinni brengt de Glas, se si voll bes an dä Rand,
Helt met de Fenger int Bier et Glas in de Hand.
Sej sätt se op de Toffel met ernste Minn;
Sönne süwere Schmärlapp hat ek noch ni gesinn.
„Ast ow belieft!“ sätt sej ok noch. „Ent sall ow wäll bekomme.“
Jann was onderdehand hoß ower wat gefalle, flukt lälek va: „Pottverdomme!“
So kreg ek et Grussele ower Lief en Siel, in Jann der Düwel sin Asyl.


Nicht nur Tonnis hexenhaftes Aussehen entsetzte den Autor und seine Freunde, sondern auch die unhygienischen Umstände, in denen das Herbergspaar lebte.
Den Appetit was ons ontfahre! Obwohl Toinn das Bier mit ihren schmutzigen Fingern in das voll Glas fassend servierte, trauten sich die Jugendlichen nicht, den Trank abzulehnen.

Ek kann et ni vertällen, wuj et Bier ons schmiek.
Et wor äne Sägen, dat et van eges haronderliep.

Sicherlich können wir bei Jan dem Düwel von besonders schlimmen Verhältnissen ausgehen, aber Armut war in Wemb damals wohl überall zuhause. Hermann Willems verweist darauf in der letzten Strophe ausdrücklich, betont jedoch auch, dass die Menschen sich gar nicht als arm empfanden, lebten doch alle in der gleichen Situation. Sie empfanden ihr Leben als normal und nahmen es so an. Was man nicht hatte, war eben auch nicht unbedingt notwendig.

Von Armut kann in Wemb heute wohl keine Rede mehr sein. Auch die Abgeschiedenheit des Ortes ist Geschichte. Der Aufschwung kam mit dem Bau des Flughafens Laarbruch Mitte der 50er Jahre, der Arbeitsplätze auch außerhalb der Landwirtschaft brachte, und mit der beginnenden Mobilität. Wemb ist heute ein blühender Ortsteil der Gemeinde Weeze mit einem starken Eigenleben, das vor allem durch die geselligen Vereine geprägt wird, deren Fähigkeit zur Integration vieler Zugezogener und zum Zusammenhalten der Menschen überhaupt nicht zu unterschätzen ist. Sie setzen mit ihren Aktivitäten im Dorfleben Akzente und vermitteln den Bewohnern ein stabiles Heimatgefühl, so wie es Hermann Willems auch schon vor rund 80 Jahren für sein Wemb empfunden hat.